LAWINEN-WK 1951

Mit gemischten Gefühlen rückten wir Offiziere der Fl Kp 12 mit der Bahn am 2. Februar 1951 zum KVK des Flpl Rgt 4 (damals hatte die FF Trp noch 4 Fl/Flpl Rgt) nach Lodrino in der Leventina ein. Es war der erste Winter-WK der Fl Trp seit dem Aktivdienst. Die Vorwoche war in der nördlichen Schweiz durch gewaltige Schneefälle, viele Lawinenniedergänge und umfangreiche Bahn- und Strassen-Unterbrüche gekennzeichnet. In den oberen Tessin-Tälern fiel ebenfalls viel Schnee, die Wetterprognosen waren ungünstig. Im Vorbeifahren in Ambri sahen wir bei schönstem Wetter grosse Peter-Schneefräsen im Einsatz auf unserem Flugplatz, es schien uns, dass Piste und Rollwege bereits freigearbeitet wären. Schon während des KVK-Rapportes begann es stark zu schneien, bei Ankunft in Ambri befanden wir uns in einer zutiefst bedrohlichen Winter-atmosphäre und verkrochen uns rasch in unser gewohnt gemütliches Ristorante Stazione, wo wir eine ganze Wohnung als WK-Unterkunft bezogen.

Die am Montag einrückende Truppe befand sich in einer ganz unerwarteten Situation: nordwärts des Gotthard-Tunnels hatte sich die Wetterlage bedeutend verbessert und nun dieser unheimliche, ungewohnte Riesen-Schneefall. Das Wochenziel war rasch gegeben: Frei-räumen des ganzen Flugplatzes, damit Flugbetrieb in der 2. Woche möglich ist. Die zur technischen Ausbildung not-wendigen Morane D – 3801 waren noch rechtzeitig durch die DMP in die Unter-stände überführt worden. Der andauernde Schneefall setzte jedoch die Prioritäten eindeutig fest. Erstmals seit dem Aktiv-dienst war eine Schneeräumung von ungeahntem Ausmasse auf einem Gebirgs-flugplatz auf 1000 m Höhe durchzuführen. Nach einigen Fehlversuchen war die richtige Methode rasch gefunden: Vom Pistenrand her frästen die riesigen Peter-Schneefräsen (wie sie sonst nur auf den höchsten Pässen im Einsatz waren) die enormen Schneemauern weg, die Motor-pflüge schoben den Schnee gegen die Mitte zu wo sie auf Lastwagen über-nommen wurden. Obwohl einzelne Peter-Schneefräsen erstmals versuchsweise mit einer Schleuderanlage ausgerüstet waren, verblieb für die Truppe immer noch eine gewaltige Schaufelarbeit von Hand. Es fiel in jenen Tagen soviel Schnee, dass die reguläre Gotthardstrasse nur noch einem kleinen Waldpfad glich. Die Bevölkerung war in den Häusern blockiert, die tägliche Versorgung unterbrochen. Hier setzte die Hilfe der Truppe ein. Weil wir erstmals über den einzigen Unimog mit extrem hoher Bodenfreiheit verfügten, konnten wir mit diesem Kleinst-Fahrzeug die ganze Bevölkerung von Ambri-Sotto bis Ambri-Piotta und sogar noch hinauf bis zum Sanatorium an der Ritom-Standseilbahn mit Brot und Milch versorgen. Der Stab Flpl Rgt 4 dislozierte wegen zunehmender Lawinengefahr von Quinto in unser Ristorante Stazione, was bei häufigem Stromausfall zu verschiedenen unmilitärischen Friktionen führte. Nach schwerstem Hand-Einsatz wurde die Truppe am Wochenende mit der Mahnung auf witterungsgerechter Klei-dung und Schuhwerk in den Sonntags-urlaub entlassen.

Nach und nach erfuhren wir mehr über die prekäre Lage in Airolo. Bereits hatte die berüchtigte Valascia-Lawine das Oberdorf schon viermal überschüttet, der grosse Lawinengraben am Dorfrand war total aufgefüllt, die Bevölkerung wurde evakuiert. Mit dem Abgang der restlichen Grosslawine sei zu rechnen. Die Flpl Abt 8 (Kdt Major Oswald Loderer) sollte sich für einen allfälligen Hilfseinsatz zugunsten Airolos bereithalten. In der Zwischenzeit war unser Flugplatz wieder „unter-gegangen“. Die Lage war angesichts unserer bescheidenen Mittel wirklich trostlos. Trotzdem lautete der Befehl erneut: Freischaufeln der Rollwege zur Unterstützung der maschinellen Räumarbeit an der Piste.
Als jüngstem Leutnant wurde mir der Befehl erteilt, die Truppe vom Urlaub an der Bahnstation abzufangen und wegen der vollständig, meterweise zugeschneiten Wege sicher in die Unterkunft zu führen. Sofort wurden Schichten zur Schaufel-arbeit eingeteilt und die erste Gruppe nahm anstelle der erhofften Nachtruhe die mühsame "Sklavenarbeit" beim Hangar auf. Die ganze Zeit, d.h. in stockdunkler Nacht versuchten wir den schweren, 1 m tiefen nassen Schnee auf dem Rollweg vom Hangar zur Piste wegzuräumen. Die Stimmung war misslich. Plötzlich "reichte" es einem alten Aktivdienst-Soldaten: Er schmiss seine Schaufel dem tüchtig mitarbeitenden Abt-Kdt mit den Worten vor die Füsse: "Du häsch wohrschinlig no nie muesse chrampfe, susch wörsch nöd sonen Seich befehle!"

lawinen wk 01
Der beliebte und einsatzbewährte Abt Kdt schmiss ebenfalls seinen Pickel zur Seite und konterte mit lauter Stimme: "Du chunsch mer grad no recht, i ha scho krampfed wo Du no nöd emol i de Schuel gsii bisch!" Alle waren wegen der ungewohnten Situation total perplex und folgten gar willig dem Befehl zur Sammlung im Schutze des Hangars. Dort wurde uns bei flackerndem Lampenlicht energisch bedeutet, dass es keine Kapitulation gäbe. Diese Drohung erfolgte gerade um etwa 0100 Uhr, als die Meldung kam, die Riesenlawine sei auf das Dorf Airolo gestürzt und habe alles verschüttet. Einsatz der Truppe von Flpl Ambri sei sofort einzuleiten. Den Flugplatz vergessend, erreichten wir total durchnässt den Bahnhof und nahmen zwecks Transport nach Airolo im dort stehenden Schnellzug Platz. Dieser Zug stand schon seit 7 Stunden ohne Strom im Bahnhof Ambri, die zunehmend schwächer werdende Beleuchtung hing nur noch an der Zugs-Batterie. Plötzlich rief man nach mir, ich solle mit einem Teil der Truppe den Zug verlassen. Ich erhielt den Befehl, dem Bahngleise 3 km in Richtung Airolo zu folgen und mit unseren Mitteln den Lawinenkegel beim Wärterhäuschen Ponte Sordo von der Schiene wegzuräumen. Mit Werkzeugen und Scheinwerfern machten wir uns tapfer auf den Weg. Unterwegs holte uns in finsterster Nacht die riesige Rotary-Schneeschleuder ein, lud uns in den Kesselraum ein und fuhr bis zur verschütteten Stelle. Unsere Bemühungen waren allerdings erfolglos, die Werkzeuge standen in keinem Verhältnis zur riesigen Schnee-Verschüttung. Als dann die "Lawinenwache" im Wald über unserem Arbeitsplatz immer wieder "etwas hörte" und der Bahn-Wegmacher über der Nutzlosigkeit unseres Tun den Kopf schüttelte, traten wir total erledigt und durchfroren den Weg auf der Schiene zurück nach Ambri an. Bei Tagesanbruch kam uns der blockierte Schnellzug entgegen, der wegen dem Brachial-Einsatz der Rotary-Schneefräse endlich freie Fahrt nach Airolo erhielt. Im Zug sass der restliche Teil unserer Truppe, sie wurden sofort zur Bergung der verschütteten Bewohner im Oberdorf Airolo eingesetzt. Den ganzen Tag pickelten sie ergebnislos im 10 m tiefen, betonharten Lawinenkegel. Die 10 toten Bewohner wurden erst später ausgegraben. Alle Beteiligten werden diese schweren Stunden kaum mehr vergessen!


lawinen wk 02
Zum Glück nahm meteomässig die dritte WK-Woche einen günstigeren Verlauf. Bei schönstem Wetter konnte der Flugbetrieb zwischen den riesigen Schneemauern aufgenommen werden. Militärisch war doch festzustellen, dass man sich für die Einsatzbereitschaft des Flpl wirklich Mühe gegeben hatte. Man hörte dann auch noch von den vielen Hilfseinsätzen der Fl Trp mit Ju-52 und C-3603-Flugzeugen zugunsten der total eingeschlossenen Bewohner und deren Viehhabe. In Ambri selbst konnten wir nur einen Materialabwurf eines C-3603 über dem Dorf Brunasco (oberhalb Airolo) beobachten. (Später wurde resümiert: Total 167 Vsg-Fl Std bei Kosten von Fr. 345'000.--)

lawinen wk 03
Am Samstag, den 24.2 nahmen wir Abschied von Ambri, schauten ein letztes Mal auf die noch tief eingeschneite Landschaft und waren froh und auch etwas stolz, diese ausserordentliche Gefährdung und Leistung gesund überstanden zu haben. In der Rückschau über viele Militärdienst-Jahre ist dieser Lawinen WK 51 für mich das tiefste Erlebnis meiner Zeit in der Flieger-Truppe.
lawinen wk 04